Jean Jaurés: das erste Opfer des 1. Weltkrieges: UNZ Unsere Neue Zeitung (2024)

Vor 100 Jahren am 1. August 1914, begann der 1. Weltkrieg. Einer, der wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht das blutige Massenmorden an den Fronten verhindern wollte, wurde am 31. Juli in Paris das erste von über 17 Millionen Todesopfern, die das Gemetzel auf den Schlachtfeldern bis noch 1918 kosten sollte.

Von Mario Hesselbarth

„Jaurés ermordet!“ So lauteten in den ersten Augusttagen 1914 die Schlagzeilen der Zeitungen der deutschen Sozialdemokratie, die in tiefer Trauer und Anteilnahme über den Tod des führenden französischen Sozialisten Jean Jaurés berichteten. Er war am Abend des 31. Juli 1914 in Paris von einen französischen Nationalisten ermodert worden. Gilt das Attentat auf den österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 in Sarajevo gemeinhin je nach Lesart als dessen Ursache oder Anlass, verstanden die Zeitgenossen, dass mit Jaures ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zum Krieg beseitigt worden war. Er verkörperte wie kein zweiter jenen Willen der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Verhinderung des drohenden Krieges, der sich in der letzten Juliwoche 1914 in Deutschland, Frankreich und in weiteren europäischen Ländern in öffentlichen Protesten und Kundgebungen gezeigt hatte. Jaurés Ermordung „wirkte als Signal, dass dem Krieg gegen den äußeren Feind zwangsläufig ein Schlag gegen den inneren Feind vorhergehen könne, wenn die Linke in ihrer Mehrheit sich gegen die Politik der Herrschenden stellt. Der Erste Weltkrieg hat offenbar eine soziale Dimension, die unmittelbar mit den Triebkräften und Zielsetzungen dieses Krieges zu tun hat.“ (Stefan Bollinger: Weltbrand, Urkatastrophe und linke Scheidewege. Fragen an den „Großen Krieg“ Berlin 2014)

Jean Jaurés wurde am 3. September 1859 in einer Kleinstadt in der Nähe von Toulouse geboren. Er stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und näherte sich dem Sozialismus über den Weg der Philosophie. Seine Doktorarbeit behandelte das Thema „Die Ursprünge des deutschen Sozialismus bei Luther, Kant, Fichte und Hegel“. Von ihm stammt eine umfassende Darstellung der Französischen Revolution 1789. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wirkte er auch als Journalist, 1904 gründete er die bis in die Gegenwart bedeutende linke französische Tageszeitung „L’Humanité“.

Die politische Laufbahn des großen Rhetorikers und leidenschaftlichen Redners Jaurés begann 1885 mit seiner Wahl in das französische Parlament. Der zu diesem Zeitpunkt jüngste Abgeordnete schloss sich zunächst nicht den wenigen und unter sich zerstrittenen Sozialisten, sondern der größten bürgerlich-republikanischen Fraktion an. Nachdem er 1889 sein Parlamentsmandat verloren hatte, wurde er drei Jahre später als Kandidat der Bergarbeiter des nordfranzösischen Departements Carmaux erneut ins Parlament gewählt. Jaurés hatte die Arbeiter in ihrem Kampf für ihre politischen und sozialen Rechte aktiv unterstützt. Er trat nun in die Fraktion der marxistisch orientierten Sozialisten um Jules Guesde ein und gehörte bald zu deren führenden Persönlichkeiten.

Für Republik und Gerechtigkeit

In den großen innenpolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich um die Jahrhundertwende engagierte er sich sowohl für soziale Gerechtigkeit als auch für die Republik, die von der monarchistisch-klerikalen Reaktion, die insbesondere im Offizierskorp eine wichtige Stütze hatte, akut bedroht war. Im Kampf für den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten jüdischen Offizier Dreyfus standen sich Gegner und Befürworter der Republik in der sogenannten Dreyfus-Affäre offen gegenüber. Nachdem der berühmte Schriftsteller Emile Zola in einem Aufsehen erregenden offenen Brief an den Präsidenten der Republik die Machenschaften des Militärs öffentlich gemacht hatte, die zu Dreyfus Verurteilung geführt hatten, unterstützte Jaurés leidenschaftlich die Kampagne für dessen Freilassung. Ebenso verteidigte er den Sozialisten Alexandre Millerand, der in die bürgerlich-republikanische Regierung als Minister eingetreten und hierfür von Teilen der französischen Sozialisten und der Führung der deutschen Sozialdemokratie kritisiert worden war. Sie sahen in der Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Republikanern ein Abweichen vom Klassenkampf. In seinem großen Rededuell mit August Bebel auf dem Amsterdamer Kongress der II. Internationale 1904 wurden dabei die grundlegenden Differenzen kenntlich, die aus den jeweils verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland und Frankreich resultierten. Nicht die Kompromisse der französischen Sozialisten, die sich zur Verteidigung der Freiheit mit der bürgerlichen Demokratie verbündet hätten, sondern die offenkundige Schwäche der SPD, die trotz ihrer Wahlerfolge keinen politischen Einfluss im obrigkeitsstaatlichen Kaiserreich besaß, gefährden den sozialen Fortschritt und den Frieden in Europa, hielt Jaurés August Bebel vor. Dennoch unterlag er mit seiner Position der Kongressmehrheit, so dass ihm nur die Entscheidung zwischen dem Austritt aus der sozialistischen Partei oder dem Verzicht auf die weitere Zusammenarbeit mit den Republikanern blieb. Der überzeugte Sozialist Jaurés akzeptierte die Mehrheitsentscheidung und setzte sich seit dem aktiv für die Herstellung der Einheit der französischen Sozialisten ein. Dies gelang im April 1905 mit der Gründung der Sozialistischen Partei (SFIO), in der die grundlegenden Unterschiede zwischen Revolutionären und Reformern hauptsächlich durch die Persönlichkeit Jaurés überbrückt und ausgeglichen wurden.

Kampf gegen Krieg im Mittelpunkt

Infolge der zunehmenden imperialistischen Rivalitäten rückte der Kampf zur Verhinderung eines Krieges für den Pazifisten Jaurés immer stärker in den Mittelpunkt. Im Nachgang zur ersten Marokkokrise 1905 umriss er die drei Prinzipien seiner Friedenspolitik. Erstens müsse die Verteidigungskraft Frankreichs erhöht werden, indem der Gegensatz zwischen dem reaktionären Militär und den republikanischen Verhältnissen überwunden würde. Hierfür unterbreitete er in seinem 1911 veröffentlichten Buch „Das neue Heer“ ein Konzept, mit dem er erstmals das von den allen europäischen Sozialisten geforderte Milizsystem konkret untersetzte. Zweitens wollte er die Regierungen verpflichten, in internationalen Konfliktfällen schiedsgerichtliche Verfahren zu akzeptieren.

SPD gegen konkrete Maßnahmen

Drittens müssten die Arbeiter in allen europäischen Ländern an politischer und organisatorischer Stärke gewinnen, um durch gemeinsame Aktionen einen Krieg zu verhindern. Deshalb forderte Jaurés von der II. Internationalen konkrete Absprachen, zu denen er neben verschiedenen parlamentarischen Aktivitäten auch die Ankündigung eines Generalstreiks forderte. Würde ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich unmittelbar drohen, müssten die Arbeiter beider Länder alles unternehmen, um dessen Ausbruch zu verhindern. „Wenn wir dies nicht versuchten, wären wir entehrt“, erklärte er auf dem Stuttgarter Kongress 1907. Die hier beschlossene Resolution verpflichtete zwar die Parteien, alles zur Verhinderung bzw. Beendigung eines Krieges zu tun, legte aber aufgrund der Verweigerung der SPD keine konkreten Maßnahmen hierzu fest.

Jaurés war das erste Kriegsopfer

Jaurés, der sich von Beginn seiner politischen und parlamentarischen Tätigkeit an für eine Aussöhnung mit Deutschland eingesetzt hatte, wurde in Frankreich aufgrund dieser Haltung zunehmend verdächtigt, als deutscher Agent zu agieren und massiv persönlich angegriffen. Während der Julikrise 1914 versuchte er, obwohl gesundheitlich stark angeschlagen, mit seinen letzten öffentlichen Auftritten in Paris und Brüssel sowie während der Sitzung des Büros der II. Internationale am 28. und 29. Juli gegen den drohenden Krieg zu mobilisieren. Er selbst setzte seine Hoffnungen auf den für den 9. August nach Paris einberufenen Kongress der Internationale. Am 31. Juli musste er nach einer Unterredung mit der französischen Regierung jedoch erkennen, dass der Krieg nicht mehr zu verhindern war. Mit einem großen Artikel für die „L’Humanité“, in dem er die wahren Schuldigen des Krieges anzuklagen beabsichtigte, wollte Jaurés seinen Kampf für den Frieden aufnehmen. Hierzu kam es nicht mehr. Bevor das Morden an den Fronten und das Leiden im Hinterland begann, hatte der Krieg mit Jean Jaurés sein erstes Opfer gefordert.

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